Automotive und Daten: „Ein Wimpernschlag ist zu langsam für das vernetzte Auto von morgen”

Der Internetknotenbetreiber DE-CIX ermöglicht den sicheren und schnellen Datenaustausch zwischen Netzen, Clouds und Unternehmen. Im Interview mit Ivo Ivanov, Chief Executive Officer bei DE-CIX und Vorstandsvorsitzender der DE-CIX Group AG, sprechen wir über die Bedeutung von Internetknoten für die Automobilindustrie, warum niedrige Latenzzeiten entscheidend sind und wie auch kleine Werkstätten mit Closed User Groups von der digitalen Infrastruktur profitieren können.

Autowerkstatt 4.0: Herr Ivanov, können Sie uns zunächst erklären, was DE-CIX genau macht?

Ivo Ivanov: DE-CIX zählt zu den weltweit führenden Unternehmen im Bereich der Zusammenschaltung von Netzen. Wir ermöglichen an unseren Internetknoten den direkten Austausch von Daten zwischen unterschiedlichen Unternehmen und Netzwerken. Aktuell sind wir in knapp 60 Metropolregionen auf fünf Kontinenten vertreten und haben über 3.600 Netze angeschlossen. Im letzten Jahr tauschten die Netzwerke rund 59 Exabyte an Daten aus, ein Plus von rund 23 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Besonders interessant sind unsere Knotenpunkte etwa für die Automobilindustrie, die riesige Datenmengen bewältigen muss. Mit verteilten Knotenpunkten, die Datenströme lokal verarbeiten, unterstützen wir die Anforderungen an Sicherheit und Geschwindigkeit, die im Automotive-Bereich absolut entscheidend sind. 

Autowerkstatt 4.0: Welche Rolle spielen solche Internetknotenpunkte für die Digitalisierung der Automobilindustrie?

Ivanov: Eine große, denn die Automobilhersteller haben erkannt, dass sie sich nicht mehr nur durch Motorleistung oder Design von der Konkurrenz abheben können. Neue Geschäftsmodelle, besonders im Aftermarket-Bereich, basieren stark auf Digitalisierung und vernetzten Diensten. Der Bedarf an sicheren, latenzarmen Netzwerken steigt in der Automobilbranche rasant an. Connected Cars generieren immense Datenmengen, die teils sofort verarbeitet werden müssen. Das reicht von Sensorinformationen bis zu Infotainmentsystemen oder Software-Updates. Die Datenströme innerhalb der Fahrzeuge und in Verbindung mit externen Infrastrukturen sind extrem latenz- und sicherheitssensibel – sie müssen in Echtzeit und hochsicher übertragen werden, um einen echten Mehrwert zu bieten. Genau das können wir mit unseren skalierbaren und geografisch verteilten Knotenpunkten gewährleisten. 

Autowerkstatt 4.0: Was bedeutet Latenz in diesem Zusammenhang und warum ist sie so wichtig?

Ivanov: Latenz beschreibt die Zeit, die während einer Datenübertragung vergeht. Um das zu veranschaulichen: Ein Wimpernschlag dauert etwa 100 Millisekunden. Für viele Anwendungen im vernetzten Auto brauchen wir aber noch schnellere Datendurchlaufzeiten von rund ein bis drei Millisekunden. Die Dauer eines Wimpernschlags ist also zu langsam für das vernetzte Auto von morgen. Um sicher autonom zu fahren und intelligente Assistenzsysteme zu nutzen, sind niedrige Latenzzeiten entscheidend. Die Latenz ist sozusagen die neue digitale Währung, die einen reibungslosen digitalen Betrieb im Automotive-Sektor und vielen weiteren Branchen erst möglich macht.

Autowerkstatt 4.0: Lassen Sie uns über „Closed User Groups” sprechen – was ist darunter zu verstehen? Warum sind solche Gruppen relevant für den Automotive-Sektor?

Ivanov: Closed User Groups sind geschützte virtuelle Umgebungen, in denen Unternehmen sicher Daten austauschen können. Sie bieten für den Aftermarkt unschätzbare Vorteile. Beispielsweise kann ein Hersteller oder eine Werkstatt direkt über ein privates, gesichertes Netzwerk am öffentlichen Internet vorbei auf Fahrzeugdaten zugreifen. Das senkt die Komplexität und erhöht die Sicherheit. Werkstätten können direkt mit dem Hersteller in Kontakt treten und Diagnosedaten in Echtzeit abrufen. Wir haben bereits solche Gruppen für mehrere Automobilhersteller eingerichtet. Dort wird die Konnektivität zu verschiedenen Standorten und Cloud-Zonen in einer geschützten Umgebung gebündelt. Auch die Mobilfunkanbieter, die über eSIM-Karten die Verbindung zu den Fahrzeugen herstellen, sind eingebunden. 

Autowerkstatt 4.0: Gibt es Herausforderungen oder Bedenken bezüglich der Nutzung solcher geschlossenen Netzwerke im Aftermarket?

Ivo Ivanov: Ein häufiger Kritikpunkt ist die Zugangsbeschränkung für unabhängige Werkstätten, aber hier gilt: Closed User Groups schließen grundsätzlich niemanden aus. ‘Closed’ bedeutet nicht, dass der Zugang generell beschränkt ist – auch freie Werkstätten können teilnehmen, wenn sie die Sicherheits- und Compliance-Anforderungen erfüllen. Wichtig ist hier die klare Regelung und Steuerung des Zugangs, die im besten Fall durch den Automobilhersteller koordiniert wird.

Autowerkstatt 4.0: Wie können kleine Werkstätten von dieser Infrastruktur profitieren?

Ivanov: Nicht für jede einzelne Werkstatt wird sich ein eigener Netzanschluss lohnen. Aber sie könnten sich zum Beispiel im Rahmen von Projekten wie Autowerkstatt 4.0 zusammenschließen, eine Art Datengenossenschaft bilden und sich gemeinsam anschließen. Das eröffnet ihnen Zugang zum gesamten Ökosystem – auch ohne Closed User Group. Die Anwendungsmöglichkeiten sind vielfältig: von der Echtzeitdiagnose über vorausschauende Wartung bis zur automatischen Erkennung von Straßenschäden. All diese Dienste erfordern eine schnelle, sichere Datenübertragung.

Autowerkstatt 4.0: Was sind aus Ihrer Sicht die entscheidenden Trends in der Dateninfrastruktur für die Automobilindustrie?

Ivo Ivanov: Die Zukunft der Automobilindustrie liegt in einer hochgradig verteilten Infrastruktur. Autonome Fahrzeuge, Echtzeit-KI und vernetzte Services brauchen eine Infrastruktur, die Daten in Millisekunden verarbeiten kann. Damit das gelingt, werden wir in Zukunft kleinere Knotenpunkte an strategischen Orten wie Autobahnkreuzen oder Mobilfunkmasten sehen. Diese Mini-Rechenzentren werden Daten direkt dort verarbeiten, wo sie gebraucht werden, um eine möglichst niedrige Latenz zu gewährleisten. Unsere Infrastruktur wird damit immer näher an die Fahrzeuge heranrücken, um die Echtzeitanforderungen des autonomen Fahrens und anderer digitaler Dienste zu erfüllen.

Autowerkstatt 4.0: Wie sehen Sie die Zukunft der digitalen Infrastruktur in Deutschland?

Ivanov: Deutschland ist nach wie vor ein sehr attraktiver Markt, aber wir müssen schneller handeln. Wir brauchen schnellere Genehmigungsverfahren für Infrastrukturprojekte und bessere Rahmenbedingungen, etwa bei den Strompreisen für Rechenzentren. Deutschland hat in der Vergangenheit durch brillante Ingenieure geglänzt und den Verbrennungsmotor erfunden. Jetzt müssen wir auch bei der digitalen Infrastruktur führend werden. Die Nationen, die sich und ihre Infrastruktur heute digital gut aufstellen, werden in 20 Jahren die Wirtschaftsführer sein – nicht die, die sich durch Protektionismus oder fehlende Investitionen in digitale Infrastruktur auszeichnen. Die Politik sollte die Voraussetzungen schaffen, dass Deutschland nicht nur als Autobauer, sondern auch als Digital Leader eine starke Rolle spielt. Ohne digitale Infrastruktur lässt sich die Zukunft des Automotive-Markts nur schwer gestalten.

Autowerkstatt 4.0: Vielen Dank für das Gespräch!

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